Kapitel 11

FIRE im deutschen Kontext - Teil 1

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Geht das überhaupt?

Teil 1: Warum FIRE bei uns anders funktioniert – aber nicht unmöglich ist

Es gibt diesen Moment, da stößt man auf einen amerikanischen Blog über finanzielle Unabhängigkeit, sieht eine Grafik mit exponentiell wachsendem ETF-Depot – und denkt: „Wow. Das will ich auch.“ Und dann, ein paar Absätze später, folgt die Ernüchterung: US-Gehälter, steuerfreie Rentenpläne, niedrige Lebenshaltungskosten, keine Krankenversicherungspflicht, ach ja – und sie haben keine Kinder. So viel zur Übertragbarkeit.

Wir standen selbst irgendwann an diesem Punkt. Begeistert vom Gedanken an mehr Freiheit, mehr Zeit für Familie, weniger Abhängigkeit vom Job – aber auch ein bisschen ratlos. FIRE in Deutschland? Wie soll das gehen? Dieser Artikel ist unsere Einladung an dich, das Ganze durch eine realistisch-deutsche Brille zu betrachten. Ohne Illusionen, aber mit vielen guten Nachrichten.

Einleitung: Ein amerikanischer Traum?

FIRE – kurz für Financial Independence, Retire Early – ist in den letzten Jahren zu einer regelrechten Bewegung geworden. Geprägt wurde sie von amerikanischen Bloggern wie Mr. Money Mustache, die mit hohem Einkommen, aggressivem Sparen und cleveren Investitionen bereits mit Mitte 30 in den Ruhestand gegangen sind.

Die Zutaten in den USA wirken aus deutscher Sicht fast märchenhaft: Jahresgehälter über 100.000 $, steuerbegünstigte Vorsorgekonten wie 401(k) und Roth IRA, günstige Indexfonds mit jahrzehntelanger Renditehistorie – und ein ganz anderer Blick auf Gesundheitssystem, Steuern und Altersvorsorge. Kein Wunder, dass viele hierzulande sagen: „Das funktioniert bei uns doch nie!“

Doch dieser Gedanke greift zu kurz. Denn auch wenn die Rahmenbedingungen unterschiedlich sind – das Ziel bleibt dasselbe: Freiheit. Selbstbestimmtheit. Ein Leben jenseits des finanziellen Hamsterrads. Nur eben auf eine Art, die zu unserem System passt.

Was in Deutschland anders ist

Höhere Abgaben – weniger Netto

Wer in Deutschland arbeitet, kennt das Gefühl: Vom Bruttogehalt bleibt nach Steuern, Sozialabgaben und Versicherungen oft nur rund die Hälfte übrig. Im Vergleich zu US-Angestellten mit ähnlichem Einkommen haben wir schlicht weniger Spielraum zum Sparen und Investieren – zumindest auf den ersten Blick.

Was in den USA ein steuerfreier 401(k)-Plan ist, wird hier durch Kapitalertragssteuer auf Dividenden und Kursgewinne ausgebremst. Zusätzlich gibt es die sogenannte Vorabpauschale, eine fiktive Besteuerung auf nicht realisierte Erträge bei thesaurierenden ETFs – also auch dann, wenn man gar nichts verkauft hat.

Trotzdem ist Sparen möglich, wenn man seine Ausgaben bewusst steuert und den Fokus auf das legt, was einem wirklich wichtig ist.

Rente oder Pension – nicht für alle gleich

In den USA ist Altersvorsorge fast vollständig privat organisiert. Was du nicht sparst, hast du im Alter nicht. In Deutschland hingegen gibt es ein zweigleisiges System: Die meisten zahlen in die gesetzliche Rentenversicherung ein, während Beamte eine staatliche Pension erhalten.

Für Angestellte bedeutet das oft: jahrzehntelange Beiträge, aber eine Rente, die kaum reicht, um davon zu leben. Wer dagegen verbeamtet ist, bekommt eine Pension vom Staat – häufig deutlich höher, aber ohne vorherige Einzahlungen. In FIRE-Rechnungen spielt das eine große Rolle. Denn wer eine Pension erwartet, braucht weniger Kapital, um finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen. Für alle anderen gilt: Ohne zusätzliche Vorsorge geht es nicht.

Immobilienbesitz – teurer und komplizierter

In vielen US-FIRE-Geschichten ist das abbezahlte Eigenheim gesetzt. Es senkt die monatlichen Kosten enorm. In Deutschland wohnen dagegen über die Hälfte der Menschen zur Miete – und Eigentum ist teuer. Nebenkosten wie Grunderwerbsteuer, Notar oder Makler summieren sich schnell. Und die Einstiegshürde ist deutlich höher.

Dazu kommt: Hausflipping funktioniert in Deutschland kaum. Während man in den USA mit etwas Farbe, neuer Küche und hübscher Einrichtung Gewinne machen kann, zählen bei uns Bausubstanz und energetische Auflagen. Wer renoviert, denkt nicht nur an Tapeten, sondern an Dämmung, Fenstertausch, neue Heizsysteme – kurz: hohe Kosten und komplizierte Bauvorschriften.

Auch das beliebte „House-Hacking“ – ein Duplex kaufen, selbst drin wohnen und die andere Hälfte vermieten – ist hierzulande kaum realistisch. Mieten reichen selten aus, um die Kreditrate zu decken, und Banken prüfen strenger. Immobilien als FIRE-Baustein sind in Deutschland möglich – aber kein Selbstläufer.

Was in Deutschland besser ist

Krankenversicherung: Sicherheit inklusive

Während in den USA viele ohne Versicherung leben oder im Ruhestand horrende Beiträge zahlen, sind wir in Deutschland meist lebenslang krankenversichert. Und das einkommensabhängig – auch bei Teilzeit oder vorzeitigem Ruhestand. Selbst bei chronischen Erkrankungen bleibt die Versorgung gesichert. Für FIRE ist das ein echter Pluspunkt.

Sozialsysteme: Familienfreundlich abgesichert

Wer Kinder hat, profitiert in Deutschland von Kindergeld, Elterngeld und Elternzeit. Auch steuerliche Vorteile, Betreuungskostenzuschüsse und Förderprogramme gehören dazu. Anders als in den USA kann man sich auch mit Familie und kleinem Einkommen Zwischenzeiten gönnen – etwa durch Teilzeit oder Selbstständigkeit – ohne vom System fallengelassen zu werden.

Wohnkosten: Regionale Unterschiede nutzen

In Deutschland lohnt es sich, genauer hinzusehen. Wer offen ist, findet Regionen mit günstigen Lebenshaltungskosten, guter Infrastruktur und hoher Lebensqualität – auch ohne direkt aufs Land zu ziehen. Mieten sind oft moderater, der Alltag günstiger und Stadt-Land-Kombinationen bieten ein gutes Maß an Versorgung. Kein Muss – aber ein Hebel auf dem Weg zur Freiheit.

Und jetzt?

FIRE in Deutschland ist nicht unmöglich, nur nicht 1:1 kopierbar. Es lohnt sich, über den amerikanischen Tellerrand hinauszuschauen – und eigene Wege zu finden.

Im nächsten Artikel schauen wir uns deshalb an, was FIRE in Deutschland konkret bedeuten kann, wie man seine eigenen Zahlen findet – und welche Tools und Denkmodelle helfen, ein eigenes Freiheitsmodell zu bauen.

Hier geht es weiter: Fire im deutschen Kontext Teil 2